von Mark Wendt & Anonym
In der Politik wird oft von den „Vereinigten Staaten von Europa“ gesprochen. Zentral bei dieser Vorstellung ist die Schaffung eines legitimen Staatenbundes aus allen Ländern der Europäischen Union. Landesgrenzen werden überwunden, Nationalismen beseitigt und eine neue europäische Identität geschaffen. Doch unsere Frage ist: Könnt Ihr, kannst Du, können wir uns mit diesem friedlichen Europa überhaupt identifizieren? Was kennzeichnet unsere Identität? Ist Europa unsere Heimat?
Die erste Debatte beginnt schon darüber, wie wir Europa geographisch überhaupt definieren. Vom Ural bis an die Adria, von norwegischen Fjorden bis zu griechischen Olivenfeldern, von Warschau bis nach Andalusien, alle haben eines gemeinsam: Sie befinden sich auf europäischem Boden. Doch gehören Staaten wie Russland und die Türkei noch zu Europa? Diese Fragen werden oft in der Gesellschaft diskutiert, auch wenn uns der Geographieunterricht lehrt, dass die natürliche Grenze Europas am Uralgebirge in Russland bis zum Bosporus im türkischen Istanbul verläuft.
Zudem besitzt Europa eine unglaubliche Vielfalt an Naturräumen, Reliefs und klimatischen Verhältnissen. Vergleicht man die finnische Seenplatte mit den französischen Alpen oder mit den phlegräischen Feldern am Fuße des Vesuvs in Italien, so könnte man stark anzweifeln, dass diese sich auf dem gleichen Kontinent befinden. Vielfalt – sie schafft verschiedene Lebensräume mit unterschiedlichen Bewohnern und ihren Mentalitäten. Allerdings kann man hier mit voller Berechtigung einwerfen, dass es schwierig ist, einen solch geographisch, geologisch und klimatisch unterschiedlich definierten Kontinent als die eigene Heimat oder gar als einen „Staat“ zu bezeichnen. Doch ist es nicht gerade die Abwechslung, die Vielseitigkeit und der kulturelle Reichtum, die einen Ort für uns besonders angenehm, lebens- und liebenswert macht?
Auch aus dem historischen Standpunkt ist eine Vielfalt zu erkennen: uns Europäer verbindet eine bemerkenswerte Geschichte, die die gesamte Menschheit für immer veränderte. Man schaue sich einmal die bedeutsamen Erfindungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse an, die aus Europa hervorgingen: Die Dampfmaschine von James Watt, der Buchdruck von Johannes Gutenberg oder das heliozentrische Weltbild von Nikolaus Kopernikus. Das alles wurde auf europäischem Boden geschaffen. Und selbst die Demokratie – die dominierende Staatsform und Form des Zusammenlebens vieler Länder dieser Erde, hat ihre Wurzeln im antiken Griechenland. Die Geschichte stellt also wieder einen Punkt dar, der für Europa als eine Heimat mit gemeinsamen historischen Wurzeln spricht.
Da passt es ganz gut, dass Europas Motto „In Vielfalt geeint“ lautet. Vielfalt – sie manifestiert sich in Kultur, Politik, Geographie von europäischen Staaten und zeigt sich auch bei uns in Deutschland: Wir sind ein europäisches und multikulturelles Land, wo viele Menschen verschiedener Hintergründe und Kulturen zusammenkommen, um friedvoll einander zu begegnen und dieses Land voranzutreiben.
Doch zurück zu Europa, genauer gesagt zur Europäischen Union (EU), ein Bündnis von derzeit 28 europäischen Mitgliedsstaaten, das 1993 ins Leben gerufen wurde. Stellt Euch einmal vor: Ohne die EU gäbe es Grenzkontrollen bei der Einreise nach Italien, verschiedene Währungen, in einer anderen europäischen Stadt zu studieren erwiese sich als sehr schwierig. Und überlegt mal, vor Eurem alljährlichen Spanien-Trip müsstet Ihr den Umrechnungskurs spanischer Peseta und deutscher Mark überprüfen. Das Schengener Abkommen, das unter anderem die Grenzkontrollen regelt, der Euro als gemeinsame Währung und Erasmus, das Förderprogramm der EU, sind nur wenige Beispiele dafür, wie die Meilensteine der EU-Politik das Leben unzähliger europäischer Jugendliche und auch uns SKI-ler berühren. Es ist wahrlich faszinierend, dass unsere Generation (und hoffentlich auch die nächste) von diesen zahlreichen Vorteilen der EU profitieren kann. Wir lernen an unseren Schulen schließlich auch mehrere Fremdsprachen, es werden Möglichkeiten für Austausche mit Frankreich oder mit Spanien angeboten und manche von uns denken möglicherweise über eine Ausbildung, ein Studium oder ein Praktikum jenseits der deutschen Grenzen nach. Möglich machen‘s die EU sowie weitere Verträge und Abkommen zwischen den Staaten, wie beispielsweise der deutsch-französische Élysée-Vertrag von 1963 – ein Freundschaftsvertrag, auf dem unser partnerschaftlicher Umgang mit Frankreich basiert sowie viele weitere Institutionen wie das Deutsch-Französische Jugendwerk[1] und der Kulturfernsehsender Arte.
Wir sehen also: Europa hat im Laufe der Geschichte zueinander gefunden, Frieden geschlossen, was nach den Kriegen und Schlachten – man möge sie nicht zählen – nicht selbstverständlich war. Alte Feindbilder wurden überwunden und Europa hat sich zu einem partnerschaftlichen Umgang und bedingungsloser Solidarität bereiterklärt. Am 09. Mai 1950 – vor 67 Jahren – begann ein kleines Puzzle zu entstehen, das aus gerade einmal aus der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden bestand, die später dann die „Kernzellen“ für die Gründung der Europäischen Union im Jahre 1993 nach den Verträgen von Maastricht darstellen würden. „EKGS“ (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, umgangssprachlich „Montanunion“)[2] tauften sie das „Puzzlebaby“ und keiner – nicht einmal Robert Schuman – hätte sich damals ausmalen können, dass sich dieses Puzzle 67 Jahre später zum größten gemeinsamen Wirtschaftsraum der Welt entwickeln würde, der EU, mit 1 Milliarden Einwohnern, die aufgrund französischer Überseegebiete wie Guyana[3] nicht nur auf dem europäischen Kontinent leben. Aber auch fernab der EU sollten wir nicht vergessen, dass wir ein und derselbe Kontinent sind: EUROPA.
Der deutsche Schriftsteller Kurt Tucholsky hat schon 1926 gesagt: „Wir wohnen nicht mehr in einzelnen Festungen des Mittelalters, wir wohnen in einem Haus. Und dieses Haus heißt Europa.“[4] Eben dieses Haus gilt es zu erhalten und zu schützen. Jeder mag in seinem Zimmer wohnen und Freiräume haben. Deutschland könnte dann in der Küche – wegen der wachstumsstarken Produktion und Industrie – in der Küche hausen, während Russland aufgrund seiner Rolle als Europas wichtigster Energielieferant im Keller an der Sicherung lebt und es sich die spanischen und italienischen Kollegen auf dem Sonnendeck gemütlich machen. Besonders in Krisenzeiten und anderen Projekten sollen alle diese WG-Bewohner – diese Familie, die unterschiedlicher nicht sein könnte – zusammenkommen, um sich gemeinsam zu helfen, zu verteidigen, für dieselben europäischen Werte einzustehen und sie vertreten zu können.
Kann man nun eindeutig behaupten, dass Europa für mich und für Euch Heimat ist? Wir wachsen in einer Welt auf, in der uns Jugendlichen diverse Möglichkeiten eröffnet werden, die auf Europa und die Europäische Union zurückzuführen sind. Was wären wir ohne Austausch und Begegnungen mit anderen europäischen Ländern? Was wären Deutschland und Frankreichs Industriebetriebe ohne eine umweltfreundliche EU-Gesetzgebung bezüglich der Schadstoffemissionen? Ohne Euro? Was wäre mit den Schicksalen zahlreicher Flüchtlinge ohne Bestrebungen innerhalb Europas, die Zuwanderer gerecht auf die einzelnen Staaten zu verteilen?
Europa schafft Bedingungen und Umstände, die das Leben eines Griechen mit dem eines Finnen in vielen Gemeinsamkeiten – vor allem im Alltag, der Politik und Wirtschaft – verbinden, die – zugegebenermaßen – auch Herausforderungen für Europa, demnach auch für uns, darstellen können, wie beispielsweise der Umgang mit der Immigration aus Afrika und dem Nahen Osten oder die Regulierung von Finanzmärkten. Wir sind jedoch der Auffassung, dass jene Herausforderungen uns zu Denken und Handeln motivieren können, gemeinsam für das Gute und Gerechte zu kämpfen und somit unsere gemeinsame Heimat und Ursprung Europa zu verteidigen und zu vertreten. Doch dazu bedarf es etwas: Unser aller Mitarbeit.
Wir Europäische Jugendliche sollten Tag für Tag die Werte der Demokratie und des Friedens leben, auf denen Europa aufgebaut wurde und uns nicht hinter unseren Landesflaggen zu verkriechen und dem Nachbarn nicht in die Augen schauen,
Wir sollten zwar stolz sein auf unsere erste Heimat, die Deutschland heißt, diese sozusagen „im Rucksack“ haben, sollten uns aber auch trauen, über eigene Landesgrenzen hinweg zu schauen (und zu gehen) und den Kontakt und die Zusammenarbeit mit anderen europäischen Partnern zu wagen und stolz zu sein auf die gemeinsame europäische Identität, die uns verbindet. So gesehen ist Europa unsere zweite Heimat, die uns mitprägt und unser Leben mitgestaltet.
Somit können wir aus voller Überzeugung sagen: Wir sind Deutsche, Mexikaner, Schwaben, jedoch – ganz wichtig – auch Europäer. Könnt Ihr das auch?
[1] Quelle: https://www.lpb-bw.de/elysee-vertrag.html
[2] Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Union#Geschichte
[3] Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Union
[4] Zitiert nach: http://www.textlog.de/tucholsky-innenpolitik.html