von Isolde Sellin
„Wo der Reichtum regiert, ist die Armut zu Haus.“
– Horst Bulla (dt. Dichter und Autor, *1958)
In jeder großen Stadt gehören Obdachlose und Bettler zum Stadtbild – so auch in Brüssel. Doch hier sticht der Gegensatz noch schmerzlicher ins Auge. Es ist der Gegensatz, zwischen der EU, die über Digitalisierung, Urheberrechtsreformen oder Klimawandel diskutiert, und den Menschen in Armut, die weit weg von diesen Themen leben und denen es weniger um ein Leben in einer digitaleren Welt, sondern vielmehr um wenigstens irgendein Leben geht. Der Gegensatz, den man sieht, wenn man die ganz eigene, abgeschirmte Welt des EU-Viertels verlässt und hinein geht in die wirkliche Welt.
Betrachtet man die Anzahl der Menschen in präkeren Wohnungsverhältnissen, also solche, die keinen festen Wohnsitz haben, von einer Notunterkunft in die nächste ziehen und zwischen der Straße und temporären Unterkünften pendeln, wird von einer Zahl von 4100 Menschen gesprochen, auch hier ist der Spielraum nach oben offen. Unter den Obdachlosen und Bettlern befinden sich unter anderem auch viele Menschen aus Polen. Etwa 70.000 sind wohnhaft in Brüssel gemeldet. Sie erhoffen sich dort ein besseres Leben, da sie oft aus ärmeren Regionen Polens stammen, doch Arbeitsunfälle oder ähnliches, in denen Sozialversicherungen so nötig sind, diese aber fehlen, lassen ihre Zukunftspläne oft scheitern. Die Bekämpfung der Obdachlosigkeit ist in der EU Aufgabe der Länder, sie könnte lediglich koordinierend wirken. Im Jahr 2011 kamen Diskussionen zur Obdachlosigkeit auf – damals setzte sich das Parlament in Brüssel das Ziel, dass bis 2015 niemand mehr auf der Straße leben solle. Das ist jetzt vier Jahre her – auch im Jahr 2019 leben so viele Menschen noch auf der Straße, wahrscheinlich noch viel mehr als damals, da die Zahl stetig wächst.
Ob diese Menschen wohl ihre Stimme am 26. Mai abgeben haben? Für welches Europa sollen sie stimmen? Europa ist für so viele Menschen nicht greifbar. In hohen Bürohäusern, die von Sicherheitsdiensten bewacht sind, werden Diskussionen geführt und Entscheidungen getroffen. Einige von ihnen bewirken etwas, und seien es auch nur Demonstrationen gegen die Urheberrechtsreform. Andere Abstimmungen über neue Gesetze sind den meisten EU-Bürger*innen zu abstrakt, um sie mit ihrem Alltag in Verbindung zu bringen. Doch es heißt zu entscheiden, in welcher EU wir leben möchten. Ursprünglich sollte sie Frieden bringen, in dem Sinne hat sie ihren Zweck erfüllt. Doch die Entscheidungen, die im Moment getroffen werden, die helfen den Menschen, die abgehängt sind, nicht. Über den digitalisierten Arbeitsmarkt brauchen diese Menschen nicht nachzudenken, da sie schon von dem ganz normalen Arbeitsmarkt ausgeschlossen wurden. Die EU ist besorgt, Menschen durch die Digitalisierung abzuhängen – doch sollte sie nicht an anderer Stelle anfangen? Das kleine Abbild, das Brüssel liefert, zeigt nur ein Ausschnitt der EU, ist aber sicher sinnbildlich für viele andere Städte. Am 26. Mai wird gewählt – ob sich für die Abgehängten der Europäischen Union etwas ändert ist fraglich, aber nicht unmöglich. Am 26. Mai hat jede*r die Chance zu entscheiden, welche Zukunft der EU bevorstehen soll. Ihr steht viel Arbeit bevor – Arbeit für eine Europäische Union, in der jede*r ein lebenswertes Leben führen kann.