von Monika Hartmann
Bildung in Zeiten der fortschreitenden Digitalisierung
Allgemeinbildung, Herzensbildung, Ausbildung, Schulbildung, Weiterbildung.
Sie ist nicht zufällig Bestandteil zahlreicher Komposita, kann sie doch viele Formen annehmen und auf ebenso viele unterschiedliche Weisen definiert werden.
Sie gilt als essentiell für die Bewältigung der Welt, in der wir leben, und als entscheidend für die Entwicklung eines Menschen durch die Herausbildung individueller Charakterzüge.
Sie soll Menschen befähigen, sich als selbstbestimmte Persönlichkeiten in einer sich beständig verändernden Gesellschaft zurechtzufinden und verantwortungsvoll ihre eigenen Lebensentwürfe zu verfolgen.¹
Welche Rolle man ihr auch zuschreibt, wie man sie auch definiert: Dass Bildung entscheidend dazu beiträgt, den Menschen zum Menschen zu machen, ist gesellschaftlicher Konsens. Dabei muss unterschieden werden zwischen Herzensbildung einerseits und akademischer Bildung andererseits, hinzu kommen die verschiedenen Abstufungen akademischer Bildung, also beispielsweise Schulbildung oder höhere, universitäre Bildung. Als Schülerin beschäftigt mich hauptsächlich die Frage nach der Zukunft von Bildung im schulischen Bereich.
Schule der Zukunft, Zukunft der Schule
Längst hat die Digitalisierung in den Schulen Einzug gehalten, etwa durch Dokumentenkameras, Smartboards, vereinzelte Tabletklassen, Lernapps, Elternportale, digital verfügbare Vertretungspläne oder Apps zur Überprüfung der Anwesenheit. Ein einheitlicher Kurs für die digitalisierte Bildung der Zukunft liegt indes noch nicht vor. Eine durchaus vielversprechende mögliche Einbindung virtueller Inhalte in den Schulalltag stellt die Erschaffung einer zentralen, deutschlandweit zugänglichen Online‑Plattform mit Selbstlernmaterialien und verschiedenen Übungsformen dar, auf die die SchülerInnen von zuhause aus zugreifen können. In der digitalisierten Welt des Lernens bieten sich den Jugendlichen ungeahnte Möglichkeiten:
Aus der Einrichtung einer Lernplattform ergeben sich quasi automatisch vielfältigere Unterrichtsmethoden, da der bisherige Frontalunterricht durch interaktive, spielerisches Lernen ermöglichende Angebote sinnvoll ergänzt werden kann. Je nach Lerntyp können die SchülerInnen stärker visuell, auditiv, haptisch oder kommunikativ arbeiten und sich so vermittelte Inhalte besser merken.
Auch spielt die hohe Anpassungsfähigkeit digitaler Lernangebote eine Rolle: Während Schulbücher derzeit oft veraltet sind, da es sich nicht lohnt, wegen Änderungen von Bevölkerungszahlen ein neues Geographiebuch oder wegen Wandels in der Jugendsprache ein neues Deutschbuch zu konzipieren und drucken zu lassen, lassen sich neueste wissenschaftliche Erkenntnisse vergleichsweise leicht in virtuelle Lernplattformen einbetten und erlauben so die Vermittlung hochaktueller Inhalte – sprich mehr Aktualität durch höhere Flexibilität.
Doch dem heutigen Verständnis von Bildung zufolge geht es nicht nur um die Vermittlung von Inhalten, – schon Albert Einstein, dem das folgende Zitat zugeschrieben wird, wusste: Wissen heißt wissen, wo es geschrieben steht. – sondern insbesondere um die Vermittlung von Kompetenzen. Damit ist beispielsweise die Fähigkeit gemeint, sich differenziert auszudrücken, das Wichtigste aus einem Text herauszufiltern oder logische Zusammenhänge herzustellen. Nun rücken auch sogenannte digitale Kompetenzen in den Fokus der Bildungspolitik – denn was kann besser auf eine digitalisierte Arbeitswelt vorbereiten als der durch die Schule der Zukunft ermöglichte tagtägliche Umgang mit Software auf dem aktuellen Stand der Technik? Digitale Kompetenzen sind in der Arbeitswelt von heute, morgen und übermorgen essentiell – und zeigen einmal mehr, dass Seneca doch Unrecht hatte mit seiner Sentenz non vitae, sed scholae discimus.
Der Schwerpunkt digitalisierter Bildung sollte indes auf der individuellen Förderung der Jugendlichen liegen. Um dies zu erreichen, bietet sich eine Aufhebung des bisherigen Lernens im Klassenverband zugunsten eines Kurssystems an, das den Stärken und Schwächen der einzelnen SchülerInnen Rechnung trägt. Konkret bedeutet dies also, dass eine naturwissenschaftsaffine 15jährige Schülerin, die gemäß den aktuellen Standards in der zehnten Klasse ist und sämtliche Fächer auf diesem Niveau belegt, beispielsweise Mathematik und Physik auf Elftklassniveau belegen könnte, Deutsch und Französisch hingegen auf Neuntklassniveau. Dadurch wird nicht nur eine bessere Förderung des Einzelnen gewährleistet, sondern auch ein einheitliches Niveau und Lerntempo innerhalb der Kurse. Erleichterte individuelle Förderung ist die große Chance, die sich durch eine Digitalisierung des Lernens bietet.
Es wird jedoch befürchtet, dass die fortschreitende Digitalisierung in der Bildung mit Einbußen einhergeht, insbesondere im sozialen Bereich. Wenn – überspitzt formuliert – die Schule der Zukunft so aussieht, dass die SchülerInnen sich die Lerninhalte nur noch von zuhause aus aneignen und keine tatsächliche Schule mehr besuchen, geht das zu Lasten der sozialen Kontakte. Mindestens genauso wichtig wie die in der Schule vermittelten Inhalte sind die dort erlernten Werte und sozialen Verhaltensweisen. Wenn Fehlverhalten sanktioniert und Engagement gelobt wird, wirkt die Schule als Regulativ zum Elternhaus, um allen SchülerInnen unabhängig von Herkunft und sozialem Stand den gleichen Wertekanon von Respekt, Toleranz und Offenheit mit auf den Weg zu geben. Nun könnte man sagen, dass es den Jugendlichen in einer komplett durchdigitalisierten Welt durchaus noch möglich ist, Kontakt mit Gleichaltrigen zu haben, indem sie nachmittags Freunde treffen. Doch Schule in ihrer jetzigen Form ist viel mehr als ein Ort, an dem man Freunde trifft. Sie ist gekennzeichnet durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Gruppierungen, durch den Dialog mit Menschen, deren Anschauungen man nicht teilt und deren Verhalten man ablehnend gegenübersteht. Sich an diesen Menschen zu reiben, Konflikte zu suchen und zu überwinden, seine Meinung zu revidieren oder gegebenenfalls zu manifestieren – das ist es, was Schule ausmacht. Ob man dazu Herzensbildung oder soft skills sagt, das Ergebnis bleibt das gleiche: Schule hat nicht nur einen Bildungs-, sondern auch einen Erziehungsauftrag, sie bereitet Jugendliche nicht nur akademisch auf das Arbeitsleben und die Welt vor, sondern auch – oder sogar vor allem – sozial. Dieser Aspekt ist essentiell für das Verständnis von Schule als Ort der Bildung und darf daher bei allen technischen Tagträumereien nicht vernachlässigt werden.
Ebenso zu kritisieren ist die zeitintensive Umstellung von analogen auf digitale Lehr- und Lernmethoden. Zum einen ist da die Einrichtung digitaler Lernplattformen, die ein erhebliches Maß an Zeit, Aufwand und Expertise erfordert und zudem genau durchdacht und anpassbar konzipiert werden muss, zum anderen muss darauf geachtet werden, die Lehrkräfte nicht im digitalisierten Regen stehen zu lassen, sondern mithilfe von verpflichtenden Schulungen in den Wandel einzubinden. Denn während es für die SchülerInnen als sogenannte digital natives vermutlich kein Problem darstellen wird, mit virtuellen Inhalten zu arbeiten, könnten sich erfahrene Lehrkräfte vernachlässigt fühlen und um ihre Arbeitsplätze fürchten. Um dem entgegenzuwirken, müssen diese auch bei der didaktischen und pädagogischen Konzeption neuer Selbstlernmaterialien eingebunden werden – schließlich sind sie diejenigen, die aufgrund jahrzehntelanger Berufserfahrung am besten wissen, wie sich bestimmte Inhalte vermitteln lassen, welche Zusammenhänge essentiell sind und wie man Kinder und Jugendliche begeistern kann.
Auch die durch eine Digitalisierung des Schulalltags entstehenden hohen Kosten werden oft angesprochen. Nun fragt man sich vielleicht, wie die einmalige Digitalisierung von Lerninhalten und die Einrichtung entsprechender Plattformen hohe Kosten generieren soll. Fakt ist jedoch, dass es mit dieser einmaligen Einrichtung nicht getan ist. Die Systeme müssen überprüft und instandgehalten werden, dem neuesten technischen Stand muss Rechnung getragen werden, die Inhalte müssen aktualisiert werden und auch neue Erkenntnisse der Pädagogik sind zu berücksichtigen. All diese Aspekte kosten kontinuierlich Zeit und Geld. Diese Kritik ist jedoch dahingehend zu relativieren, dass es sich im Bereich der Bildung lohnt, Investitionen zu tätigen, da hier die Zukunft unseres Landes geschmiedet wird. Der Faktor Finanzen darf also keine Ausrede sein, wenn es um Bildung geht.
Während das System Schule in seiner heutigen Form relativ autark und unabhängig von Umwelteinflüssen funktionieren kann, drohen virtuellen Lernplattformen Ausfälle, beispielsweise durch Hackerangriffe oder Stromausfälle. Es kann also riskant sein, ausschließlich auf digitalisierte Bildung zu setzen. Stattdessen ist eine Symbiose mit analogem Unterricht anzustreben.
Ambitionierte Projekte zu digitalisierter Bildung stehen und fallen mit ihrer Umsetzbarkeit.
Eine zentrale Lernplattform kann etwa an dem ebenso simplen wie grundlegenden Fakt scheitern, dass nach wie vor nicht alle Haushalte in Deutschland über einen Internetzugang verfügen, sei es aus finanziellen Gründen, wegen mangelnder infrastruktureller Angebote oder durch eine bewusste Entscheidung gegen ständige Erreichbarkeit. Um eine gerechtere Bildung zu gewährleisten, ist es jedoch von großer Bedeutung, allen SchülerInnen die gleichen Grundvoraussetzungen bieten zu können. Wenn digitalisierte Bildung neue Hürden statt mehr Gerechtigkeit für Kinder einkommensschwacher Familien oder Bewohner strukturell benachteiligter Regionen schafft, verfehlt sie ihr Ziel.
Um zumindest Bildungsgerechtigkeit zwischen den einzelnen Bundesländern zu gewährleisten, wird aktuell eine teilweise Aufhebung des Bildungsföderalismus zugunsten der finanziellen Förderung von Digitalisierungsmaßnahmen durch den Bund angestrebt – der sogenannte DigitalPakt. Es ist derzeit unklar, ob die dazu erforderliche Grundgesetzänderung umgesetzt werden kann. Idealerweise sollte standardisierte digitalisierte Bildung jedoch grundsätzlich bundesweit gefördert werden, nicht nur finanziell.
Denkanstöße und Forderungen
Im Zusammenhang mit digitalisierter Bildung lassen sich als Ergebnis aus diesen Darlegungen die folgenden Denkanstöße und Forderungen für Gesellschaft und Politik formulieren:
Ist es wirklich noch zeitgemäß, am Bildungsföderalismus festzuhalten?
Wie kann erreicht werden, dass alle beteiligten Parteien, Alt wie Jung, in die Digitalisierung des Lernens eingebunden werden?
Digitalisierung und technischer Fortschritt dürfen nicht zum Selbstzweck verkommen, stattdessen muss stets der Mensch im Mittelpunkt stehen.
Um einen fundierten Diskurs über die Auswirkungen digitalisierter Bildung zu ermöglichen, muss mehr in diesem Bereich geforscht und die Ergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Und zuletzt: Digitalisierung ist keineswegs als Lösung sämtlicher Probleme des Bildungswesens in Deutschland zu verstehen und darf nicht als Ablenkung davon verwendet werden.
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¹ Bundesministerium für Bildung und Forschung (https://www.bmbf.de/de/bildung-digital-3406.html, aufgerufen am 08.12. 2018 um 20.00 Uhr)