von Leonie Nausester und Vivien Jung

Sprache verfügt nicht nur in den Händen von Politiker*innen über große Macht. Auch die Debattenkultur ist ein wichtiger Bestandteil des demokratischen Diskurses. Erst durch das Abwägen verschiedener Argumente sowie dem Ausdruck von Kritik an bestehenden Meinungen können Bürger*innen ihre Mündigkeit geltend machen. Traditionell wird die Rede- und Streitkultur als persönliches Gespräch zwischen zwei oder mehr Menschen definiert, wie bei dem klassischen Debattieren als Wettbewerbsform.

Es gibt verschiedene Ansätze für Umgangsformen innerhalb der Debattenkultur, so zum Beispiel den von Jürgen Habermas, der in seiner Diskursethik klare Regeln für objektive Diskussionen setzt. Während die Details sich aber unterscheiden, lässt sich allgemein sagen, dass Respekt und ein gewisses Maß an Objektivität als Grundvoraussetzungen für eine gesunde Debattenkultur gesehen werden können.

In den letzten Jahren hat sich der Raum der gesellschaftspolitischen Debatten durch das Internet stark ausgeweitet. Dies hat besonders für junge Menschen zu einer fundamentalen Änderung der Debattenkultur geführt, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne.

Für viele Sprachforscher unterscheidet sich das Internet besonders dahingehend von traditionellen Sprachkulturen, dass seine Anonymität zu Taktlosigkeit verleitet. Das neue Medium eröffnet Raum für eine Vielzahl sprachlicher Phänomene wie dem „Flaming“ und der „Online-Hassrede“, die auf Social Media-Plattformen wie Twitter zum Alltag gehören. Während man unter “Flaming” meist ein Angriff auf Einzelpersonen versteht, bezieht sich die Online-Hassrede auf Minderheiten, die verspottet und ausgegrenzt werden. Das sturmartige Auftreten negativer Kritik charakterisiert sich wortwörtlich in der Form des „Shitstorms“, der im Zusammenhang mit dem Begriff „Cancel Culture“ steht. 

Während die öffentliche Kritik einflussreicher Personen generell als normale Auslebung der Meinungsfreiheit gesehen wird, trifft man mit der “Cancel Culture” auf ein negativ konnotiertes politisches Schlagwort im Zusammenhang mit dem Thema „Political Correctness“. Dabei werden Personen, die aus meist linksorientierter Perspektive als verwerflich angesehene Taten begehen oder in ihrer Sprache als diskriminierend auffallen, öffentlich „gecancelt“ (ersatzlos gestrichen), was zu einem rapiden Verlust ihres Ansehens, ihrer Reichweite und auch ihren Ämtern oder Jobs führen kann.

Die Debatte über das Thema entflammte Anfang des Jahres erneut, als der SPD-Politiker Wolfgang Thierse, am 22. Februar 2021 in einem FAZ-Beitrag die Entwicklung identitätspolitischer Debatten kontroverser Themen wie Rassismus kritisierte und in folgenden Äußerungen von einer demokratiefeindlichen Cancel Culture sprach. Daraufhin fiel er jedoch selbst in vielen liberalen Lagern in Ungnade, und Kolleg*innen innerhalb seiner Partei distanzierten sich von ihm und seinen Aussagen. 

Als Gegenstand von Thierses Aussagen kann hierbei auch eine andere Veränderung moderner Debattenkultur verstanden werden, die allerdings auch oft falsch interpretiert wird. Die Idee der sogenannten “Political Correctness” begann mit dem Wunsch, die Macht der Sprache anzuerkennen, und ihr die Kraft der Ausgrenzung und Diskriminierung zu nehmen.

Sie beruht auf der Tatsache, dass durch Stereotypen und subjektive Sprache bestehende Machtverhältnisse reproduziert und bestätigt werden – der Diskurs also das neutrale und sichere Spielfeld verlässt, auf dem Meinungsbildungen unabhängig von gesellschaftlichen Vorurteilen entstehen können.

Wiederum ist der ehemalige US-Präsident Donald Trump (ein bekanntlich überdurchschnittlich engagierter Nutzer der Social Media-Plattform Twitter) ein gutes Beispiel der Gefahr ausgrenzender Sprache und Politik: Wird Rassismus sprachlich weniger sanktioniert und sogar gefördert, sinkt die Hemmschwelle gegenüber diskriminierenden Taten, die zuvor als moralisch verwerflich angesehen wurden.

Allerdings sind auch die positiven Seiten der digitalen Debattenkultur nicht zu leugnen. Die neu gewonnene Reichweite von Gruppen und Einzelpersonen bietet eine Bühne für ihren Aktivismus. So verdankt auch der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny diesem Umstand einen Großteil seiner Popularität. Besonders gefeiert wird er für sein sprachliches Markenzeichen des Spotts und der Ironie, dass ihm letztendlich zu seiner Stellung als Hauptherausforderer des russischen Präsidenten Wladimir Putin verhalf.

Wenig überraschend ist es da, dass Putin selbst einen persönlichen Konflikt mit dem Internet führt – besonders Twitter missfällt ihm. Er möchte Russland vom internationalen Netz abkoppeln und ein völlig souveränes Internet einrichten. Die politische Organisation Kreml-kritischer Jugendlicher, die hauptsächlich über das Internet stattfindet, mag wohl auch ausschlaggebend für diese Haltung sein.

Der politische Diskurs bildet somit auf mehreren Wegen das Fundament einer Demokratie: Einmal zwischen den Politiker*innen selbst, in Form der Debattenkultur zwischen allen Bürger*innen eines Landes und über dessen Grenzen hinaus. Die Macht der Sprache ist dabei nicht zu unterschätzen, besonders vor dem Hintergrund der umfassenden Reichweite der digitalen Welt. Denn mit der Entwicklung neuer Technologien verändert sich auch das Diskutieren. Ob in eine positive oder negative Richtung? Wer weiß das jetzt schon? Es wird sich wohl erst in den nächsten Jahren zeigen, denn dieser Wandel hat gerade erst begonnen.

Dieser Artikel beruht lose auf Anregungen aus einem von ca. 30 Terminen des SKI-Jahrgangs 2020/21 mit Dr. Simone Jung am 28. Januar 2021, die an der Leuphana Universität Lüneburg das Forschungsprojekt Debattenkulturen mit verantwortet. Weitere Informationen finden sich hier: https://www.leuphana.de/universitaet/entwicklung/lehre/projekte/debattenkulturen.html