von Anna-Katharina Haberl, SKI Jahrgang 2021/22

Europa wissenschaftlich betrachtet.

Einführung

Europa ist politisch in jeder Debatte präsent, emotional geladen, eine politische Meinung durch und durch. Europa ist ein Handelsraum und ein Kulturerbe, so sind die Einen überzeugt. Ein durch gemeinsame Werte und/oder Religion verbundener Kontinent glauben die Anderen. Europa ist ein Konstrukt, sagt die Wissenschaft.

Jenseits des politischen Europas, das unsere Wahlkampfdebatten präsentieren, gibt es einen Wissenschaftszweig, der sich genau die Entwirrung veschiedener Europas zur Aufgabe gemacht hat, die „Europawissenschaften“. „Europa als Konstrukt“, so lautet die wissenschaftliche Defintion des europäischen Raumes in seiner Gesamtheit, formuliert von Benedict Anderson. Es besagt, dass Europa nicht über ein bindendes Glied verfügt, welches über das vom Menschen Geschaffene hinausgeht. Es besitzt keine Essenz, was objektive Betrachtung über einen längeren Zeitraum ausschließt, da die bestimmte Interessenlage selbst den Grundstein bildet und diese, wie wir aus der Geschichte wissen, stark wandelbar ist.

Forschungsschwerpunkt und Wirken

In den letzten 15 Jahren ist das Interesse an europäischer Forschung, welche sich aus der Zusammenarbeit verschiedenster Fachrichtungen (zum großen Teil der Sozialwissenschaften) herausgebildet hat, stark gestiegen. Einerseits, um aktuelle politische Prozesse unterstützend zu begleiten, aber auch um historisch und weltpolitisch irreführende Glaubensätze zu hinterfragen.

So wird beispielhaft der Fall der nationalsozialistischen Diktatur 1945 und die darauffolgende demokratisch-liberale Politik nicht länger als nahtloser Übergang von gefallenem Nationalismus hin zum europäischen Freiheitsdenken aufgefasst, sondern als sich jahrhundertelang entwickelte Tradition deutschen Europadenkens.

Selbiges trifft auch auf die Kritik zu, dass die geschichtliche Entwicklung zu stark an westlichen Vorstellungen orientiert ist, einerseits innerhalb Europas (vor 1989 galten die Europawissenschaften häufig als westdeutsche Wissenschaften), aber auch im internationalen Kontext. In Reaktion darauf wurden die europäischen Einflüsse weltweit als Teil des Forschungsschwerpunkts miteinbezogen, insbesondere Länder, welche vom Kolonialismus und Imerpialismus betroffen waren und somit von europäischer Denktradition beeinflusst wurden und als Gegenkraft auch die politische Landschaften Europas prägten (vlg. Greiner 2016: 545 ff).

Methodikstreit

Man unterscheidet in den Politkwissenschaften von zwei gängigen Forschungsmethoden: Quantitativ und qualitativ.

Die in den Europawissenschaften häufiger vorkommende quantitative Methode zeichnet sich durch eine hohe Anzahl an verschiedenen Fällen und der Vergleichbarkeit aus.

Der qualitative Forschungsweg hingegen wird gekennzeichnet durch die Analyse eines einzelnen Falls, welche zwar Vergleichbarkeit ausschließt, dafür aber tieferen Informationsgehalt offenlegt und somit bestätigen, widerlegen, oder neue Hypothesen generiert. Dieser ist von Natur eher explorativ, wohingegen die quantitative Methodik deduktiv, Hypothesen testend, vorgeht.

Die Kritik an der quantitativen Methode findet ihren Anfang schon bei der Auswahl der Fälle. Denn um ein realitätsnahes Bild zu ergeben, sollte diese möglichst willkürlich vonstattengehen sollte. In der Realität existiert völlige Objektivität jedoch nicht und es werden auch Fälle pragmatisch nach Forschungsinteresse ausgewählt, so Kritiker. Ähnlich wie es nicht möglich ist objektiv auszuwählen, ist auch der Vergleich nach Homogenitätsannahme in den Europawissenschaften nicht möglich (Länder unterscheiden sich grundsätzlich in politischer, kultureller und ökonomischer Situation) und selbst der Bezug auf Länder wurzelt schon im Ausschluss gescheiterter Länderversuche und historischer Prozesse (vgl. Ebbinghaus 2006: 388ff.). „The Europe of 1500 included some five hundred more or less independent political units, the Europe of 1900 about twenty-five“ (Tilly 1975: 15).

Fazit

Die Europawissenschaften sind trotz ihrer zunehmenden Relevanz immer noch eine Fachrichtung am Rande und gleichzeitig mittendrin im großen Bereich der Sozialwissenschaften. Dennoch sind sie, allein in ihrer Existenz schon ein Statement: Nämlich, dass Europa – ob nun durch Geschichte, Religion oder Kultur – als politisch zusammenhängender Raum betrachtet wird, nicht nur als ein Kontinent oder eine zusammenhängende Landmasse.

Literaturverzeichnis

  • Ebbinghaus, Bernhard. “Qualitativer Oder Quantitativer Vergleich? Herausforderungen Für Die Sozialwissenschaftliche Europaforschung.” Zeitschrift Für Staats- Und Europawissenschaften (ZSE) / Journal for Comparative Government and European Policy, vol. 4, no. 3, Nomos Verlagsgesellschaft mbH, 2006, pp. 388–404, http://www.jstor.org/stable/24237221.
  • Greiner, Florian. “Die Pluralisierung Eines Imaginierten Raumes – Tendenzen, Perspektiven Und Herausforderungen Der Zeithistorischen Europaforschung.” Zeitschrift Für Staats- Und Europawissenschaften (ZSE) / Journal for Comparative Government and European Policy, vol. 14, no. 4, Nomos Verlagsgesellschaft mbH, 2016, pp. 545–64, http://www.jstor.org/stable/26165652.
  • Tilly, G: Reflections on the History of European-State Making, in: ders. (Hg.): The Formation of National States in Western Europe, Princeton, 1975,3-83, hier 15.