von Joëlle Nies, SKI Jahrgang 2021/22

Unlängst ließ sich an den Ergebnissen der Präsidentschaftswahlen in Frankreich erkennen, dass die europäischen Bürger:innen der EU sehr kritisch gegenüber stehen: Obwohl sich letztendlich der proeuropäische Emmanuel Macron ein zweites Mal durchsetzen konnte, gab rund die Hälfte der Französ:innen ihre Stimme an Kandidat:innen, die stark EU-kritische Positionen vertreten und diese teilweise am liebsten auflösen würden. Liegt das daran, dass die EU von oben über die Menschen entscheidet und sie sich nicht an der EU beteiligen können? Gibt es ein Demokratiedefizit in der EU?

EU-Skeptizismus und geringe Wahlbeteiligung

Zuallererst lässt sich feststellen, dass die europäische Integration nicht breit von den Bürger:innen getragen wird. So lässt sich beispielsweise in einer Studie aus 2021, die vom Europäischen Parlament in Auftrag gegeben wurde, erkennen, dass 46% der Befragten ein neutrales oder negatives Bild von der EU haben (vgl. Europäisches Parlament 2021). Auch bei den Europawahlen wird dies an der geringen Wahlbeteiligung immer wieder deutlich. Somit stellt sich die Frage, inwiefern das Europäische Parlament wirklich den Willen des Volkes vertreten und umsetzen kann.
Allerdings muss man zur Verteidigung der EU auch sagen, dass die Wahlbeteiligung nicht unbedingt etwas über den Grad einer Demokratie aussagt und dass sie kein Instrument ist, um diesen zu messen. Trotzdem müsste die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen höher sein, um das Parlament wirklich demokratisch zu legitimieren. Es ist also wichtig, dass die europäische Integration auch weiterhin im öffentlichen Bewusstsein stattfindet und dass zum Beispiel Werbung für die Europawahlen gemacht wird.

Ungleiches Stimmgewicht

Ein weiterer Kritikpunkt lautet, dass bei den Europawahlen nicht jede Stimme gleich viel Gewicht hat. Kleinere Länder werden nach der sogenannten degressiv proportionalen Repräsentation im Parlament überrepräsentiert, die Anzahl der Abgeordneten eines Landes ist also nicht direkt proportional zu seiner Bevölkerungsgröße. So vertritt ein:e Abgeordnete:r für Malta ungefähr 67.000 Einwohner:innen während ein:e deutsche:r 854.000 Menschen vertritt (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung). Diese Ungleichbehandlung im Stimmgewicht ergibt sich aber auch daraus, dass es kein europäisches Staatsvolk gibt, bei dem sich jede:r Bürger:in gleichberechtigt an der politischen Willensbildung beteiligen kann. Stattdessen funktioniert die politische Willensbildung vor allem über die Einzelstaaten und jede:r kann sich in seinem Nationalstaat an der politischen Debatte beteiligen.

Starke Exekutive, schwaches Parlament?

Dass das Parlament allerdings im sogenannten „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ nur wenig Macht ausüben kann, lässt sich damit allerdings kaum entkräften. Bei diesem Gesetzgebungsverfahren schlägt die EU-Kommission ein Gesetz vor, welches dann jeweils dem Rat der EU und dem Parlament zur Zustimmung unterbreitet wird. Das Parlament hat hierbei also kein Initiativrecht; es kann keine Gesetzesvorschläge einbringen. Dieses Recht liegt einzig und allein bei der Kommission, deren Mitglieder von den Regierungen der Nationalstaaten bestimmt werden. Auch die Mitglieder des Rats der EU, welcher auch Ministerrat genannt wird und trotz der Mitspracherechte des Parlaments das Hauptgesetzgebungsorgan der EU ist, werden aus den Exekutiven der einzelnen Staaten entsandt. Somit ist die Gesetzgebung sehr „exekutivlastig“ und entzieht sich der direkten Mitbestimmung der Bürger:innen. Aufgrund der eher geringen Einflussmöglichkeiten des Europäischen Parlaments spricht man auch von einer „dramatischen Entparlamentisierung“ (vgl. Martin Schulz 2012).


Dagegen muss man aber sagen, dass die einzelnen Bürger:innen das Parlament im Nationalstaat wählen und dieses dann die Regierung wählt. In jedem demokratischen Einzelstaaten ist die Exekutive also demokratisch legitimiert.

Also? Gibt es ein Demokratiedefizit?

Die Europäische Union ist eine supranationale Organisation, die aus demokratischen Einzelstaaten besteht oder bestehen soll. Sie hat nicht den Anspruch, genauso demokratisch wie Einzelstaaten zu sein und hat auch nicht die gleichen Instrumente. Die EU im Gesamten ist weniger demokratisch als ihre Mitgliedsstaaten, aber jedes ihrer Organe besteht aus in den Nationalstaaten demokratisch legitimierten Mitgliedern. Somit kann man sie als indirekt-demokratische Organisation bezeichnen.

Literaturverzeichnis